Interview
Schwimmen - Schauen - Schwatzen am Basler Rhein:
Ein Gespräch mit Max Leiß
Ein Gespräch mit Max Leiß
Schwimmen – Schauen – Schwatzen: Der Künstler und Dozent Max Leiß hat sein reich bebildertes Buch «Gehen, Sitzen, Schauen» veröffentlicht. Im Gespräch mit der IGR entwickelt sich sein Konzept von Gehen - Sitzen - Schauen in Bezug auf die Basler Rheinlandschaft weiter zum Dreiklang "Schwimmen - Schauen - Schwatzen".
IGR: Guten Tag Max Leiß. Ich freue mich, mit Dir dieses Gespräch über Dein Buch «Gehen, Sitzen, Schauen» zu führen. Dein Thema sind die Menschen in der Landschaft, genauer gesagt, wie sie mit ihrem Körper in der Landschaft gehen, wie sie in der Landschaft sitzen, wie sie in die Landschaft schauen. Kannst du diese Tätigkeiten näher erläutern?
Max Leiß: Mir ist aufgefallen, dass diese Tätigkeiten und ihre Beziehung zur Landschaft einzeln sehr gut untersucht sind, aber nicht ausreichend als Zusammenspiel verstanden werden. Beispielsweise gibt es zum Gehen ganz viel Literatur, die gut darstellt, wie durch das Gehen eine besondere Beziehung zur Landschaft entstehen kann. Aber oft wird so getan, als würden die Leute nur gehen. Dabei ist es auch wichtig, sich niederzulassen, Pausen zu machen, sich zu erholen. Wo man sich niederlässt, ist eine bewusste Wahl, von dieser Position aus nimmt man die Landschaft dann auch auf spezifische Weise wahr.
Wie sehen wir eigentlich die Landschaft, wenn wir durch die Gegend gehen oder fahren? Können wir sie als völlig neu aufnehmen?
Wir bringen immer Erwartungen mit, haben vorgeprägte, kulturell überlieferte Bilder davon, was eine Landschaft ausmacht: Was da hineingehört und was wir lieber aus der Wahrnehmung verdrängen, obwohl es eigentlich auch da ist. Dies hat schon der Basler Lucius Burckhardt in seinen Texten auf treffende Weise untersucht, beispielsweise in seinem Buch «Warum ist Landschaft schön?».
Was verstehst Du unter Landschaft?
Bei den Recherchen für das Buch habe ich gelernt, dass Landschaft ein komplexer Begriff ist. Wir verwenden ihn zumeist für Naturräume. Aber eigentlich ist Landschaft immer schon vom und für den Menschen umgestaltet und beeinflusst, kulturell geformt. Die Verwendung des Wortes hat ihre Wurzeln in der Malerei und beinhaltet damit auch eine ästhetische Sichtweise.
In den letzten Jahren haben Fragen zur Landschaft an Relevanz gewonnen. Einerseits ist ganz klar ein Verlust von intakten Naturräumen und Biodiversität zu beklagen, der gestoppt werden muss; andererseits wird entdeckt, dass wir die stark vom Menschen bebauten und kontrollierten Gebiete besser und fruchtbarer gestalten können. Landschaft kann längst auch in der Stadt gesucht und gefunden werden.
Ist Landschaft in der Stadt dort, wo Bäume stehen, oder auch dort, wo es nur Autobahnen, Strassen und Industriegelände gibt?
Auch graue, abweisende urbane Räume setzen sich in unserer Wahrnehmung zu einer Stadtlandschaft zusammen. In Forschung und Literatur werden Ausdrücke wie Verkehrslandschaft, Infrastrukturlandschaft und Mobilitätslandschaft verwendet. Der Begriff wird also auch auf Gebiete angewendet, in denen die Natur sehr stark in den Hintergrund getreten ist. Landschaft muss also nicht immer grün sein. Aber es braucht immer etwas Grün.
Dazu gehören natürlich auch die Pärke in der Stadt. Diese bezeichnest Du als Freiräume.
Je dichter die Bebauung und je mehr die Bevölkerung in urbanisierten Gebieten zusammenrückt, desto mehr steigt das Bedürfnis nach Freiräumen und Naturerfahrung. Sowohl Parks als auch andere Freiräume, wie beispielsweise Flüsse oder Seen, können mitten in urbanen Zentren eine neue Landschaftserfahrung ermöglichen.
Sind diese Freiräume gesellschaftlich bedeutend?
Ja, auf jeden Fall. Alle verspüren den Wunsch, hinauszugehen für Bewegung und frische Luft. Es geht dabei um das Wohlbefinden und die Gesundheit der Bevölkerung. Deshalb ist es wichtig, dass ausreichend dimensionierte Freiräume zur Verfügung stehen. Sie ermöglichen auch einen sozialen Austausch und sind Teil unseres demokratischen Selbstverständnisses.
"Ausreichend dimensionierte Freiräume ermöglichen einen sozialen Austausch und sind Teil unseres demokratischen Selbstverständnisses"
Bild: Lucie Alioth
Basel besitzt die schönen Rheinpromenaden. Sind sie auch «Landschaft»?
Ja, selbstverständlich.
Aber diese Rheinpromenaden sind ja zum Teil für die Wirtschaft gemacht. Es gibt da Anlegestellen und Häfen; am Schaffhauser Rheinweg befand sich die Flosslände; die Berme war zum Teil auch Treidelpfad. Heute ist der Rhein ein internationaler Handelsweg für die Grossschifffahrt.
Als vor ein paar Jahren der Rhein zugunsten der Grossschiffe ausgetieft wurde, lud man das Material an den Ufern ab, wo heute die Leute rumliegen. Ist diese Freizeitverwendung eine halbe Zweckentfremdung der Industrie - und Gewerbelandschaft?
Ja, das ist eine sehr schöne Entwicklung, nicht zuletzt dadurch bedingt, dass die Menschen mehr Freizeit haben. Wohl sind sie mobiler und können Landschaften auch anderswo aufsuchen, beispielsweise in die Alpen zu fahren. Aber die Ansprüche an Lebensqualität sind auch in den Städten gestiegen. Es hat ein Prozess der Aneignung stattgefunden: Die Basler Bevölkerung hat nach und nach entdeckt, dass der Rhein der grösste öffentliche Freiraum ihrer Stadt ist. Die Kultur des Rheinschwimmens, die ja schon lange existiert, hat sich verändert und weiterentwickelt. Das Leben am und im Fluss ist im Sommer nicht mehr wegzudenken.
Oben auf der Strasse, zum Beispiel am Schaffhauser-Rheinweg, sitzen die Leute auf Bänken. Unten am Ufer sitzen sie auf dem Schotter, also am Boden. Das ist nicht sehr nobel. Bettler sitzen auch am Boden. Handelt es sich um das gleiche Sitzen?
Nein, es hängt vom Kontext ab. Es gibt eben sehr verschiedene Haltungen des Sitzens und sehr verschiedene Ausdrucksweisen, die damit einhergehen, auch sehr verschiedene Bedürfnisse an das Sitzen. Es ist eine Bereicherung, dass es dafür ein grösseres Angebot gibt als früher.
Das traditionelle, klassische Stadtmobiliar – wie Parkbänke oder Bänke entlang der Promenade – steht dafür immer noch zur Verfügung. Aber gerade die Jüngeren wünschen sich ein ungezwungeneres Sitzen. Nah am Wasser, am Boden und auf Stufen kann man sich freier ausstrecken und bewegen, leichter in kleineren und grösseren Gruppen versammeln. Damit werden auch andere Kommunikationsformen ermöglicht.
Die Rheinpromenade um 1910
Soziales Ritual: Das Rheinschwimmen ist eine zeitgemässe Form des früheren Spaziergangs durch die Stadt.
Es gibt ja immer Gruppen von Leuten, die sichtbar zusammengehören, miteinander kommunizieren oder Musik hören. Sie schauen dann auf die Schwimmenden hinaus oder gehen selbst schwimmen. Mit oder ohne Schwimmsack. Das regt an, zu Deinem Dreiklang «Gehen, Sitzen, Schauen» einen neuen hinzuzufügen: «Schwimmen, Schauen, Schwatzen». Wie steht es um den Zusammenhang dieser drei Rheinufer-Tätigkeiten? Ist deren Zusammengehen wichtig oder ist es möglich, sie zu trennen?
Natürlich lässt sich das getrennt analysieren. Aber im alltäglichen Leben ist alles verbunden, und dieses Zusammenspiel macht die besondere Atmosphäre am Rheinufer aus. In meinem Buch habe ich dieser Situation eine eigene Betrachtung gewidmet, da sie mir sehr wertvoll erscheint.
Das Schwimmen ermöglicht zusammen mit dem Gehen eine kreisförmige Bewegung am Rhein. Wer ein Stück stromaufwärts geht und sich dann hinuntertreiben lässt, aus dem Wasser steigt, sich setzt und ausruht, bei einem Picknick oder Gespräch mit Freunden, nimmt an einem gesellschaftlichen Ritual teil. Und diese Bewegung knüpft an frühere Traditionen an, dem corso auf dem Dorfplatz oder dem Sonntagsspaziergang auf den Wällen und Promenaden der Stadt. Es geht dabei auch um soziale Fragen: Die Leute haben sich dabei immer schon gegenseitig betrachtet. Wer hat was an? Wer geht mit wem? Wer redet mit wem? Das findet nun am Rheinbord seine zeitgemässe Form.
Die Frage «wer hat was an?» stellt sich am Rheinufer und in der Badi anders. Das Badekleid, der Körper und die Körpergestaltung werden angeschaut.
Bild: Thomas Flatt
Im Bereich Mobilität wird von der Verkehrswende gesprochen. Gibt es etwas Analoges auch beim Schwimmen, in der Schwimmlandschaft?
Ja, ich denke, es gab durch die breitere Nutzung der städtischen Flüsse und Seen einen starken Wandel innerhalb der letzten Jahrzehnte. Das Architekturmuseum in Basel hat diesem Phänomen vor einigen Jahren die Ausstellung «Swim City» gewidmet. Die Schweizer Städte nehmen dabei durchaus eine Art Vorreiterrolle ein, der europäische Metropolen nachzueifern versuchen. Die Wasserqualität konnte ja auch vielerorts wesentlich verbessert werden.
Und warum machen das die Städte? Geht es um den Sport, um die Gesundheitsförderung, um die Geselligkeit?
Sie tun das, um die Lebensqualität für die Bevölkerung zu heben. Sie stehen dabei durchaus in einem Wettbewerb untereinander um zufriedene Bewohner und die besten Steuerzahler. Aber es geht nicht nur um Freizeitvergnügen. Die Frage der Gesundheit spielt eine ganz wesentliche Rolle. Gerade in der Pandemiezeit hat man gesehen, dass der gesellschaftliche Wert von öffentlich zugänglichen Freiräumen extrem hoch ist. Es braucht die grünen Lungen in der Stadt dringend als sozialen Ausgleich. Denn der Raum ist sehr ungerecht verteilt. Aber auch aufgrund der klimatischen Bedrohung.
Wird die Stadt für die Städter gepflegt, damit sie am Sonntag nicht aufs Land flüchten müssen, sondern die eigene Stadt als Landschaft erleben können?
Ja, dagegen ist ja nichts einzuwenden und ist kein Problem. Im Übrigen flüchten sie trotzdem aufs Land und in die Berge. Das grössere Problem liegt jedoch zumeist dort, wo weniger öffentliche Aufmerksamkeit besteht: im Dazwischen, in der Agglomeration rund um die Stadt herum.
Vielen Dank, Max Leiß, für das interessante Gespräch. Hoffentlich sehen wir uns im Sommer am Rheinufer und können zusammen Schwimmen, Schauen und Schwatzen.
LINK: Buch von Max Leiß «Gehen, Sitzen, Schauen»